Im November 2024 fand in den Räumlichkeiten der Arbeitskammer des Saarlandes in Saarbrücken eine bedeutende Kooperationsveranstaltung statt. Die „Arbeitskammer des Saarlandes“ (AK) und die „Saarländische Armutskonferenz“ (SAK) e.V. luden Mediziner Prof. Dr. Gerhard Trabert ein, um über dringende gesundheitspolitische Maßnahmen zu diskutieren. An diesem Termin wurden verschiedene Initiativen und Projekte des „Mainzer Modells“ vorgestellt. Aufgrund der Erkenntnisse dieser Veranstaltung fordert die SAK für das Saarland die Einrichtung einer Clearingstelle (Prüfstelle für den Anspruch aus einer bestehenden bzw. ruhenden Krankenversicherung), eines Behandlungsfonds sowie einer mobilen Gesundheitsversorgung und mobilen Arztpraxen – Forderungen, die bereits vor zehn Jahren hätten gestellt werden können, aber leider nicht umgesetzt wurden.
Was tun für Menschen, die durch das Raster unseres Gesundheitssystems fallen? Trotz Krankenversicherungspflicht gibt es in Deutschland viele Menschen, die keinen oder nur einen unzureichenden Versicherungsschutz haben. Insbesondere Wohnungslosen fehlt oft der Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung. In Mainz hatte sich deshalb vor rund 25 Jahren der Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland e.V.“ gegründet.
In seiner Begrüßung wies Thomas Otto, Hauptgeschäftsführer der „Arbeitskammer des Saarlandes“ darauf hin, dass genau vor 10 Jahren die gleiche Veranstaltung in der Arbeitskammer stattgefunden hatte. Schon damals war man in den Überlegungen neue Wege zu gehen. In der späteren Diskussion wurde festgestellt, dass sich die Verbände im Saarland gegen das „Mainzer Modell“ entschieden und stattdessen auf Vernetzung gesetzt haben, weshalb es im Saarland keine solche Organisation gibt. Thomas Otto wies des Weiteren auf die Notwendigkeit der Versorgung aller Menschen hin und dankte Prof. Dr. Gerhard Trabert dafür, dass er erneut im Saarland das Konzept vorstellt.
Michael Leinenbach, Vorsitzender der „Saarländischen Armutskonferenz“, dankte gleichfalls Prof. Dr. Gerhard Trabert für sein Kommen. Im Rahmen der Fortschreibung des 3. Aktionsplans zur Armutsvermeidung des Saarlandes habe die „Saarländische Armutskonferenz“ im Jahr 2022 das Thema Gesundheit als weiteres Handlungsfeld in den Aktionsplan eingebracht. Die SAK freue sich sehr, dass dieses Thema nun durch den Aktionsplan besondere Aufmerksamkeit erhalte. „Wichtig war es uns als Saarländische Armutskonferenz, dass der Blick in allen Themengebieten nicht nur auf die Landeshauptstadt Saarbrücken begrenzt bleibt. Hier haben wir ein enges Netz an Sozialer Infrastruktur“, so Michael Leinenbach weiter.
Eine besondere Beachtung gelte laut Leinenbach jedoch den ländlich strukturierten Sozialräumen in den Landkreisen. Dort wo das soziale Netz nicht so eng wie in der Landeshauptstadt Saarbrücken geknüpft sei, wo viele Angebote vakant oder nicht vorhanden seien, müssten Alternativen aufgezeigt und angeboten werden. Aus Sicht der SAK müsse Soziale Teilhabe unabhängig vom Ort allen Menschen zugänglich sein. Politik ihrerseits müsse dort wo Defizite vorliegen und erkannt wurden, agieren und reagieren. „Langfristig sind daher mobile Angebote in den verschiedenen Handlungsfeldern aus meiner und unserer Sicht für alle Menschen wichtig, die in diesen Sozialräumen leben“, betonte der Vorsitzende der SAK.
Aufgrund des Rückgangs u.a. der Hausärzte in diesen Regionen, stellt der mobile Ansatz daher eine grundsätzliche Perspektive für die Versorgung der Menschen in ländlichen Regionen in der Zukunft dar. Der demographische Wandel seinerseits beschleunigt die Notwenigkeit.
Das Mainzer Modell begann mit einem Arztmobil, mit dem der Mediziner Prof. Dr. Gerhard Trabert die Gesundheitsversorgung zu den Menschen brachte und insbesondere wohnungslose Menschen aufsuchte. Der Verein entwickelte vielfältige Initiativen und Projekte, die sich an Wohnungslose, Geflüchtete, Kinder und Kranke und Senioren*innen wenden, die in sozial benachteiligten Verhältnissen leben müssen und nicht ausreichend medizinisch versorgt werden. Eine der Initiativen ist das „Mainzer Modell“, das durch mobile Arztpraxen und ambulante Sprechstunden die medizinische Versorgung von wohnungslosen und sozial benachteiligten Menschen sicherstellt.
In seinem Vortag erläuterte Prof. Dr. Gerhard Trabert zunächst die verschiedenen Armutsdefinitionen und zeigte die Armutszahlen 2022 für Deutschland auf. So betrug die Armutsgefährdung in Deutschland 16.7 %. In Westdeutschland lag die Quote bei 16.6% in Ostdeutschland bei 17,1 %. In konkreten Zahlen bedeutet dies, dass 14 Millionen Menschen in Deutschland von Armut betroffen sind.
Neben den Debatten um das Bürgergeld, in dem auch viele Beschäftigte aufstockende Leistungen beziehen müssen, sollte vielmehr der Fokus auf die Höhe des Mindestlohnes gelegt werden. Dessen Festlegung ist in der Höhe über 14 € durch die Europäischen Union erfolgt, was in Deutschland bislang nicht umgesetzt wurde.
Prof. Dr. Gerhard Trabert wies auf den Selektionseffekt hin, wonach Kranke eher ärmer werden. Neuste Untersuchen zeigen auf, dass Krankheit mittlerweile der häufigste Grund für eine Verschuldung darstellt. Risikofaktoren sind das Einkommen bzw. die finanzielle Lebenssituation, die Umwelt, Gewalterfahrung, Migrationshintergrund, Arbeitslosigkeit, alleinerziehende Frauen, das Geschlecht sowie das Gesundheitssystem.
Prof. Dr. Gerhard Trabert spricht von drei zentralen Herausforderungen, die
– eine von Respekt und Wertschätzung geprägte Diskussion im Kontext Armut und Gesundheit fordern,
– auf der praktischen Ebene schnell, kompetent betroffenenzentriert agieren soll und
– gesellschaftsstrukturelle Verursachungsmechanismen benennen, kritisieren, skandalisieren und neue Inklusionsstrukturen schaffen muss.
Demgegenüber steht aktuell in der Gesellschaft ein stetig wachsender Klassismus sowie eine Ausgrenzung. Prof. Dr. Gerhard Trabert sprach hier vom Sozialrassismus. Nach seiner Ansicht handelt es sich um eine moderne Form des akademischen (Sozial-) Rassismus, dessen Ideologie in Menschen fast jeglicher Religion usw. vorkomme. Rassismus und Rechtspopulismus stigmatisiere Menschen aus sozialen Randgruppen als „Asoziale“, was ein historisch bekanntes Phänomen darstelle, so Trabert.
Mediales Problem
Ein wesentliches Problem der aktuellen Debatten bilden die digitalen Medien, die ständig neue und teils unwahre Informationen verbreiten. Es Ist fast unmöglich diese alle zu enttarnen.
Als Fakten zur Entwicklung unseres Gesundheitsversorgungssystems nannte Prof. Dr. Gerhard Trabert die kulturelle Entsolidarisierung im Gesundheitssystem, die zunehmende Privatisierung, die Exklusion durch Säumniszuschläge, Notlagentarif, Basistarif, hohe finanzielle Kosten (Zuzahlungen, Eigenbeteiligungen) für den Einzelnen und besonders für chronisch Erkrankte, immer mehr komplexere bürokratische Hürden ,sowie die Verschuldung durch Krankheit.
Um diesem entgegen zu wirken sieht Trabert die Verwendung des Begriffes „Gleichwürdigkeit“ (Jesper Juul – Dänischer Familientherpaeut) als einen Weg der gegangen werden muss.
Im Mainzer Modell arbeiten aktuell 30 ehrenamtliche Ärzte*innen (meist pensionierte Ärzte*innen – kommen oftmals auf das Projekt zu) sowie 30 Hauptamtliche Ärzte*innen (verschiedene Stundenzahl) mit. Ein Arzt ist täglich präsent, um Kontinuität in den Abläufen zu gewährleisten.
Als wesentlich sieht Prof. Dr. Gerhard Trabert an, dass es nicht darum geht, eine spezielle Armutsmedizin zu etablieren. Jede*r habe das Recht auf eine Gesundheitsversorgung im Versorgungssystem einer Gesellschaft. Stigmatisierende Komponenten von separaten Versorgungsstrukturen müssten erkannt, reflektiert und problematisiert werden.
Um dies zu verhindern, verfügt das Mainzer Modell über Kooperationen mit niedergelassenen Ärzten*innen. Des Weiteren ist eine Kooperation mit „Apothekern ohne Grenze“ erfolgt, so dass Medikamente angenommen werden können. Hierbei werden sie von „festen“ Apotheken unterstützt.
Als zwingend notwendig sieht Prof. Dr. Gerhard Trabert die Einrichtung einer Clearingstelle an, wie dies bereits in anderen Bundesländern erfolgt ist. Die Clearingstelle prüft den Anspruch aus einer bestehenden bzw. ruhenden Krankenversicherung. In Rheinland-Pfalz werden u.a. 1 1/4 Stellen beim Verein Armut und Gesundheit in Deutschland e.V. vom Land finanziert. (https://clearingstelle-krankenversicherung-rlp.de/). Darüber hinaus finden Gespräche mit den Kommunen statt.
Es wurde ein Bundesverband „Anonymer Behandlungsschein und Clearingstellen“ für Menschen ohne Krankenversicherung gegründet. Im Saarland ist eine solche Stelle noch nicht eingerichtet.
Als weiteren wichtigen Punkt sieht Prof. Dr. Gerhard Trabert die Einrichtung eines Behandlungsfonds (wenn Menschen nicht mehr reintegriert werden können). Hier sieht er die Zuständigkeit beim jeweiligen Bundesland. In Rheinland-Pfalz habe sich ein Fond über Spenden gegründet. In der Stadt Mainz lautet die Forderung an die Stadt 50.000 Euro für den Behandlungsfond.
Ein weiterer Punkt den Prof. Dr. Gerhard Trabert aufzeigte, war die Haltung gegenüber geflüchteten Menschen. Er wies darauf hin, dass 54 % der in 2015 nach Deutschland geflüchteten Menschen im Jahr 2021 erwerbsfähig waren. 2023 lag die Erwerbsquote von Migranten bei ca 62 %. Unter ihnen war ein hoher Anteil an Männern, da die meisten Frauen aufgrund der Versorgung minderjähriger Kinder an einer Erwerbstätigkeit gehindert waren.
Prof. Dr. Trabert wies außerdem darauf hin, dass das Bildungsniveau der geflüchteten Menschen weiter steige, immer mehr Geflüchtete eine qualifizierte Berufstätigkeit ausübten und jeder dritte geflüchtete Mensch sechs Jahre nach der Ankunft Schulen oder Hochschulen besuche oder Ausbildungen und Weiterbildungsmaßnahmen absolviere.
Haltung
Prof. Dr. Gerhard Trabert zeigte „Capabilies“ auf (Ansatz / Paradigma von Amartya K. Sen)
Armut soll nicht bloß als Mangel an Ressourcen verstanden werden. Armut geht zusätzlich mit einem Mangel an Freiheit einher, auf eine Weise zu leben, für die sich Menschen mit guten Gründen entscheiden. Capabilities sind Befähigungen/ Verwirklichungschancen / Fähigkeiten bestimmte Lebensentwürfe zu verwirklichen.
Forderungen
Prof. Dr. Gerhard Trabert erläutert, dass Deutschland nicht über ein Ausgabeproblem, sondern vielmehr ein Einnahme- und Verteilungsproblem verfügt. Aus diesem Grund fordert er, dass eine Vermögenssteuer, eine gerechte Erbschaftssteuer und eine Übergewinnsteuer eingeführt werden muss. Er fordert weiter eine Steuergerechtigkeit, einen flächendeckenden Mindestlohn, die Bürgerversicherung sowie die Zusammenlegung von gesetzlicher Rente und Pensionen.
Forderungen für das Saarland
Aufgrund der Erkenntnisse des Vortages ergeben sich für das Saarland folgende Forderungen, die bereits vor 10 Jahren hätten gestellt werden können:
– Einrichtung einer Clearingstelle
– Einrichtung eines Behandlungsfonds
– Einrichtung einer mobilen Gesundheitsversorgung und mobilen Arztpraxen
Prof. Dr. Gerhard Trabert bot an, dass das Projekt in Mainz, dem Saarland ein Fahrzeug zur Probe und Testung des Angebotes für mobile Angebote der Gesundheitsversorgung zur Verfügung stellen kann.
Autor: Michael Leinenbach / Red. SAK
Fotos in der Galerie: Michael Sperlich